Lady Marmelade
Liebe Freunde des Buchgeflüsters, bitte lasst euch von der Überschrift nicht in die Irre führen. Es wird heute nicht schlüpfrig im Wortreich. Stattdessen stelle ich euch einen besonderen Titel aus dem Herbstprogramm von Dumont vor, der mit schon im Sommer ins Auge gestochen ist und den ich euch unbedingt zeigen muss.
Ich bin eine der Glücklichen, die vom Verlag ein Rezensionsexemplar ergattert haben, und was soll ich sagen? Ich bin begeistert. Ich warne euch vor, Ben Aitkens „Marmelade Diaries“ ist kein leichtes Buch. Es ist zum Haare raufen. Dabei eigentlich nur seines Stars wegen. Winnie ist stur, festgefahren und hat sehr bestimmte Vorstellung davon, wie die Dinge zu laufen haben. Aber ich greife vor. First things first.

The Marmelade Diaries.
von Ben Aitken
übersetzt von Werner Löcher-Lawrence
erschienen bei Dumont
ISBN: 978-3-8321-6819-3
Preis: 22,00€, E-Book 16,99€
Bewertung: ★★★★☆
Ben ist in seinen Dreißigern und auf Wohnungssuche. Er zieht in London zu der älteren und noch sehr rüstigen Winnie. Eine bezahlbare Miete im Austausch gegen ein wenig Hilfe in dem großen Haus. Das ist im Frühjahr 2020 und weder Ben noch Winnie haben mit der Pandemie gerechnet, die sie in den folgenden Monaten stärker aneinander bindet, als es eigentlich geplant war…
Ben Aitkens „Marmeladentagebücher“ sind eine warmherzige Aufzeichnung darüber, wie sich unter strapazierenden Umständen zwischen zwei völlig unterschiedlichen Menschen eine Freundschaft entwickelt. Im Tagebuchformat (Muss man mögen, ich weiß.) nimmt er seine Leser mit auf ein kleines Abenteuer des Alltags. Wie soll man schließlich mit jemandem warm werden, zu dem einen nicht nur knapp 50 Jahre Lebenserfahrung fehlen, sondern der es einem auch noch ausgesprochen schwer macht, Sympathien aufzubauen? Winnie ist mit ihren über achtzig Jahren keine einfache Mitbewohnerin. Sie ist gebeutelt vom Verlust ihres geliebten Mannes und festgefahren in jahrzehntelang gepflegten Gewohnheiten. Winnies Welt hat sich einem gewissen Rhythmus zu unterwerfem: ihrem.
Unter ihrer anspruchsvollen Fassade entdeckt Ben, dem gar nicht klar war, wohinein er sich eigentlich manövriert hat, einen zutiefst humorvollen Charakter. Britisch, versteht sich. Die beiden lernen, gemeinsam zu lachen, ihre Erfahrungen mit dem anderen zu teilen und sich aufeinander verlassen zu können. Das dies von Hochs und Tiefs gekennzeichnet ist, versteht sich von selbst. Doch wir als Leser werden eingeladen, dem zarten Faden zuzusehen, der sich inmitten der Beschwernisse der Pandemie zwischen den beiden spinnt.
Mich hat besonders beeindruckt, dass Aitken hier ganz unaufdringlich einen Spiegel hebt. Vielleicht ist das gar nicht beabsichtigt, aber man hinterfragt doch unweigerlich das eigene Bild, das man sich von den Menschen macht und das selbstverstendlich oft mehr als unzureichend ist. Wir alle sind mehr als die Summe unserer Eigenschaften und wir alle haben mehr Facetten, als man oberflächlich wahrnimmt. Diese permanente Erkenntnis wird in den Tagebucheinträgen auf eine Weise erzählt, die einen die Personen einfach lieb gewinnen lässt. Man möchte zum Telefon greifen, einfach eine Nummer wählen und wenn der Hörer abgenommen wird, fragen „Hey, Winnie, dear, how are you?“ (dt. „Hallo Winnie, Liebes, wie geht es dir?“). Ich schätze diese Wärme an Büchern in letzter Zeit besonders. Wir befinden uns jeden Tag inmitten unzähliger Herausforderungen, unsere schnellebige Gesellschaft wird immer anonymer, immer mehr Menschen bleiben in diesem System auf der Strecke. Deshalb gefällt es mir umso mehr, wenn sich die Personen in den Büchern wie eine erweiterte Familie anfühlen. Eine entfernte Tante, ein Onkel in Übersee vielleicht, der einem zu Weihnachten etwas schickt.
Dieses Gefühl baut Aitken mit seiner Erzählung bei mir auf. Wie viel davon der künstlerischen Freiheit unterworfen ist, ist mir dabei eigentlich auch herzlich egal. Ich konnte mich für Ben und seine alte Dame einfach erwärmen.
Einen Stern Abzug (und das ist Jammern auf hohem Niveau) gibt es, weil es eine Kunst ist, einen Tagebuchroman kurzweilig und doch kontinuierlich zu erzählen, ohne den Leser zu verlieren. Mich haben diese Fragmente leider ab und zu verloren und es fiel mir schwer, Nebencharaktere zuzuordnen, nachdem ich das Buch länger nicht in der Hand hatte.
Insgesamt ist es aber ein gelungenes Stück Zeitgeschichte. Es ist eine Momentaufnahme des Stillstands, dem wir alle in der Pandemie ausgesetzt waren und der in diesem Fall zu etwas ganz Wunderbarem geführt hat. Was es nun mit der Marmelade auf sich hat, müsst ihr aber wohl selbst herausfinden. 🙂

